Freitag, 15. Oktober 2010

Spiegelfenster


Ich starre auf das Glas, das ein Fenster sein könnte und lange Zeit auch eines war. Zwecklos, ich erinnere mich nicht. Spiegel, Spiegel rund um mich. Da ist nichts, da war nichts, ist die Erinnerung ein Traum? Ist da Erinnerung? Wer schrieb diese Zeilen - wohin ging dieser vage Schatten - oder sollte ich fragen: Woher ist er gekommen? Ein Bruch - der Gute, hat uns auseinandergeschnitten - dabei ist er wohl umgekommen, dieser Schatten meiner selbst. Wehmut erfasst mich, und doch kann ich sie nicht ernst nehmen. Warum suche ich nach Wegen, diese Leiche wiederzubeleben? Weil es dahinter dunkel ist - es dämmert, immer, immer dunkler versinken die Abdrücke im Gedächtnis, wenn das Licht angeht, brauchen wir sie nicht mehr. Neue kamen, und auch sie werden wieder gehen: Wir alle sind ein Mensch, den manch einer zu kennen glaubt, der sich nicht einmal selbst erkennt. Spiegel, Spiegel zeigen immer nur die Gegenwart: Es ist egal, was früher war. Graue Schatten und Konturen - so viele, dass sie ganz verschwimmen. Details - wen interessiert das schon? Im Außen wirst du niemals mehr erkennen als im Spiegel, Spiegel deiner Seele. Was willst du mitnehmen? Festhalten? Wozu? Am Ende endet Nichts im Alles und das All ist ein Nichts. Ich könnte sagen: Wage es, kipp den Schalter: Mach es dunkel, auf dass die störenden Konturen weichen, auf dass die Spiegel, Spiegel ineinanderfließen und zerrinnen: Steig hindurch, steig auf, und flieg! Hoch in die Lüfte und stimm ein in das Geschrei der Euphorie: Kran! Kran! Ruf in die Nacht und sie werden kommen, du wirst mit ihnen gleiten, gleiten durch die Lüfte - unter dir das Lichtermeer - die nie erreichte Landebahn. Ein Glitzernetz aus Menschenspinnen-Weben. Es zittert, funkelt und es spiegelt, spiegelt doch nur oben, unten, Sterne. Der sicherste Ort der Welt: Nur wer fliegen kann, der zählt. Oben auf den kränernen Zinnen wird die Zeit im Nu verrinnen: Kran! Kran! Dich rufen wir an. Schwarze Flügel glänzen, spannen, strecken, gleiten, fliegen! Und spiegeln, spiegeln, spiegeln, spiegeln...

Ein Spiel im Wind zur späten Stunde. Kran! Ein Zauberwort in schwarzer Vögel Munde. An der Wipfel Scheitel wachsen kahle Stellen, als unten aus Dächern Schornsteinwölkchen quellen.

Ein Abglanz - eben doch ein Spiegel, Spiegel und nicht ein Fenster - oder eine Tür zu neuen Wegen: Weder schließt es sich, noch wird es neu geöffnet. Es ist und ist und ist die Grenze meines heutigen Verstandes - kein Weg hinaus und auch kein Blick. Was lernen wir daraus? Ich weiß es nicht und freue mich, dass ich nicht alles weiß, wo bliebe unter diesem Umstand noch der Reiz? Es reißt mich kreuz und quer auf dieser Reise durch die Lüfte, Tiefen, Höhen, Weiten, Engen - der schmale Grat ist euch wie mir gerade breit genug. Hier sind wir unser einig, innig Lieb. Ich flieg’ mit euch, und spüre: Diese Melodie klingt schlicht und tief empfunden, beschwört das lang Ersehnte: Kran! Wir haben dich gefunden!

Trug? Lug? Nein nur ein Spiegel, Spiegel meiner Seele? Meines Wahns? Es zwingt mich weiter, weiter aber nicht hinaus. Ist es nicht mehr als Fantasie? Ein Fiebertraum im hohen Herbst? Es muss, denn ich sah diese Bilder wirklich - Erinnerungen, klar und deutlich - doch Dämmerung am Horizont. Ich wusste eben noch wie Fliegen geht, ich glitt, ich spannte, streckte, glänzte schwarz gefiedert - euren Lockruf hab ich im Traum erwidert.

Es geht das Licht an und die Erinnerung verblasst, versinkt, vergeht. Ein Gesetz, das unumstößlich steht. Ich bin nicht Herr in meinem Haus und auch nicht Frau. Ich bin mir schutzlos ausgeliefert, doch traue ich mir schon ein kleines Stückchen weiter, als meine Nase riecht. Bedeutungslos ist alles, was du bei dir behältst. Was du erfahren willst, musst du aus deinem Käfig lassen. Lass sein, lass stecken, gib es auf - und wenn du selbst dir manchmal Mut zusprechen musst, so ist es schon in Ordnung. Der Wille steht der Existenz im Weg, um eines muss ich bitten: Raubt mir den Verstand! Damit ich fortfahren kann im Spiegel, Spiegel meiner Seele das Pendel endlich abzuschwächen. Hin und her und hin und her und Ruhe gibt es nie. Doch geht es weder Vorwärts, noch Zurück: Am Ende ist das alles nichts - und Nichts vergeht im All.