Montag, 27. Dezember 2010

Marikas Engel


Marika wackelt an ihrem Gehstock die Stiegen hinunter. Sie macht die Tür auf, Freiheitsduft weht ihr entgegen. Benzin, Asphalt, saubere Kälte und das letzte welke Laub. Es riecht anders vor den Fenstern im dritten Stock. Nur kurz erstaunt sie ihre eigene Verblüffung, ein zages Lächeln wischt die trockenen Mundwinkel nach oben. Gleich um die ewig weit entfernte Ecke ist die Busstation. Marika kaut an ihrem Gebiss.
Wo bist du - intergalaktisches Wesen?
Sie kann's nicht lassen, es bleibt ein Fremdkörper in ihr, eine Überlebensprothese. Ebenso wie der lästige Stock.
Trippelst an den Oberflächen von Dimensionen herum, wie ein geflügelter Wasserläufer.
Dienstags fährt Marika Tanja besuchen, ihre Schwester, die noch fünf Jahre älter ist. Hat sich eine recht bemerkenswerte Fortbewegungstaktik zugelegt, den Umständen nach, mit ihren schweren Wasserfüßen und dem dürren, dritten Bein. Jawohl, sie findet es bemerkenswert, dass sie mit ihren neunundsiebzig Jahren so gut wie niemandem zur Last fällt.
Ich bin der Wirbelwind, der euch zusammenfegt. Das Werden ist ein Gehen.
Ganz autonom kann sie noch für sich sorgen, ist mobil und klaren Geistes. Nur widerwillig hat sie es akzeptiert, dass ihre Schwiegertochter jetzt alle vierzehn Tage eine Bedienerin vorbeischickt, die stumm, nur manchmal grinsend oder pfeifend, die schweren Hausarbeiten in der kleinen Wohnung macht. Dabei dreht sie den Radio laut auf und verstellt Marika den Sender. Sie hat mehr Bart als Marika, obwohl sie gute vierzig Jahre jünger ist.
Auf meinem Weg von einer Ebene zur nächsten durchströme ich euch, geh' an Menschenseite und in euch hinein.
Marika geht aus dem Haus an diesem tristen, kalten Samstag, sonst kaum einer in der Gegend. Mehr als siebzig Jahre hat es Tanja und Marika gekostet, ihren Geschwisterzwist beizulegen. Seit Marikas Mann gestorben ist, kann sie es nicht ertragen, seine Radiosendung am Samstagnachmittag zu hören. Sie fährt zu ihrer Schwester, dort trinken sie gemeinsam Tee und vermeiden heikle Themen. Irgendwann wird jeder ein Vertrauter, mit dem man noch Erinnerungen teilt.
Seelenfusionen kann ich euch aus den Handgelenken schütteln.
 Leer ist die Leibenfrostgasse vor ihr, so ist es besser. Wochentags herrschen hier Trubel und Krawall um die Mittagszeit, da spuckt die Phorusgasse wer weiß wie viele Volksschulkinder aus.
Der körperlichen Existenz so weit entwichen - Kontrolle ist irrelevant.
Marika spricht nicht oft mit jungen Menschen, Enkel hat sie keine. Wenn es sich doch einmal ergibt, ist sie nach wenigen Minuten ganz erschöpft.
Wie durch einen Sumpf waten durch die Welt des Physischen - in den letzten Atemzügen. Ich bin unsterblich durch meine Umwandlung der Welt. Der Boden entgleitet mir unter den Füßen. Bewegung ist eine Frage der Perspektive. Ich habe die Welt verwandelt. Ich bin Geschichte. Mit Prothesen sauge ich mich fest an der hinfortzuckelnden Gegenwart - wird das eine oder andre strahlend Herz ein Stück von mir besitzen?
Marika erreicht die ewig weit entfernte Ecke in weniger als zwei Minuten. Das ist kein persönlicher Rekord, dennoch fällt das Gehen diesen Tags leichter als letzte Woche. Knapp hinter sich vermutet sie den 13A Bus, denn wenn Marika das Haus verlässt, dann nach Fahrplan. Mit Neunundsiebzig steht man sich nicht gerne die Beine in den Bauch.
Wie verschiedner Gegenstände Schatten, durchfließen diese Welt und ich uns. Bis es kaum noch Widerstände gibt. Wo ich welche finde, fliege ich grade für das Abenteuer auf sie - wie die Insekten in das Licht. An des Tunnels Ende kann ich noch nichts erkennen
aber Weisheit in den letzten Menschen, die mich zum Ausgang eskortieren.
Jetzt muss sie sich aber beeilen, sie kann den Bus schon kommen hören.
Es steht uns gleich bevor: Fusion! Ein neues Element lass’ uns gemeinsam bilden - neues Gewicht erlangen.
Einmal in Schwung, fällt Marika das Stehenbleiben schwer. Sie denkt an ihre Schwester und an die Salbe, die sie für Tanja in der Apotheke noch besorgen muss. Das ist schon die vierte, die der Herr Doktor für das schlimme Knie verschrieben hat. Nichts scheint etwas zu nützen. Plötzlich wird Marika ganz bang. So einen bösen Blick hat sie doch nicht verdient. Verunsichert will sie sich neu orientieren, es dauert einige Sekunden.
Hallo Mensch! Verzeih, ich habe dich für einen Blütenkelch gehalten, meine Nase wollt ich ein wenig in deinen leuchtenden Pollen tauchen.
Sag, weißt du viel? Warst du schon drüben?
Etwas an deinem Strahlenmuster ist mir so magisch wie der Horizont.
Die leeren, grauen Augen starren weiter böse, starren aus einem jugendlichen Gesicht. Marika sieht es ganz scharf, so wie sie die Gesichter in den Illustrierten sonst nur durch die Lupe sieht.
Dein Magnetfeld, deine Suche
hat mich eingefangen wie der Leuchtturm, der sich stets nach Zeugen seiner Existenz umsieht. So sinnlos ist der Lichtstrahl ohne Reflexion - das Leben unser Spiegelkabinett.
Nein, nein, ich geb' es zu, ich habe Angst vorm Sterben. Doch stetig wächst die Neugier - und mit ihr das Vertrauen.
Bevor sie weiß, wie ihr geschieht, hat sie sich abgewandt und ist leicht wie auf Mondmission in den Bus aufgestiegen - in der vordersten Reihe im hinteren Teil findet Marika sich wieder, sonst sitzt sie lieber ganz weit vorne. Da spürt sie diesen Blick noch einmal, er sitzt ihr wohl im Nacken. Soll sich nur nicht zu früh freuen, dieser Voyeur, flink schauen kann Marika ihr Leben lang. Es scheint beinah ein Spiel zu werden. Dennoch beunruhigt es die arme, alte Marika, die Welt ist heute manchmal sehr schwer zu begreifen. Sie kaut ganz in Gedanken weiter ihr Gebiss.
O ewige Transformation,
Kreis der Vergänglichkeit.
Als ich entflammte, sind andere erloschen: Die Schatten früh'rer Existenzen schwanden dort. Und dennoch ängstigt mich der Anblick in des Todes dunklem Abgrund. Wird eines Tages neues Leben sich daraus
und mich mit ihm erheben?
An der Pilgramgasse ist der Spuk vorbei. Marika muss aussteigen. Sie beschleunigt mit der Bremskraft, als der Bus zur Haltestelle einschwenkt. Sie ist kein ängstliches Mütterlein, dass sich schon drei Stationen zu früh in Richtung Ausgang zwängt. Selbstbewusst wartet sie den Moment ab, in dem das Aufstehen die geringste Anstrengung bedeutet. Sie lässt sich von der Menschentraube aus dem Bus tragen und ist im Nu dem bösen Blick entkommen. In der Mutter Gottes Apotheke kauft Marika die Salbe und gönnt sich selbst noch eine Packung Schmerztabletten. Wenn der Herr Doktor das wüsste.
Die Wienzeile überquert Marika nicht gerne. Man muss dort so viel im Auge haben. Menschenmassen strömen blindlinks aus der U-Bahn und den vielen Busstationen, Autofahrern traut Marika schon gar nicht übern Weg. Lächerlich kurz werden die Grünphasen der Fußgängerampeln, wenn man erst mal neunundsiebzig ist. An der Pilgrambrücke nimmt niemand Rücksicht auf eine kleine alte Frau. Sie grämt sich trotzdem, dass sie wieder nur in Tanjas winziger Wohnung herumsitzen werden. Tanja dreht die Heizung lästig warm auf. Die Luft staut sich dann schnell. Dafür besitzt Tanja im Sommer einen Balkon. Voriges Jahr noch haben sie gemeinsam Ausflüge unternommen, ein-, zweimal sind sie sogar mit der Badner Bahn hinausgefahren. Ob es noch einmal so wird, das ist schon eines der heiklen Themen. Als müsste es so sein, hat Marika die Wasserfüße bekommen, und wenig später Tanja ihr schlimmes Knie. Es ist immer irgendein Hindernis zwischen den Schwestern gewesen.
Von dem Moment unsres Erscheinens an sind wir unsterblich und leben fort solang' man unserer gedenkt.
Nun muss Marika doch noch warten, der 12A Bus ist ihr davongefahren. Sie setzt sich aber nicht auf die kalte Haltestellenbank. Sich aus eigener Kraft zu erheben ist ihr ein großes Übel. Sie verlagert das Gewicht und hält sich mit dem Gehstock in der Waage. So macht das Stehen weniger Mühe. Es beginnt Marika zu jucken, wenn sie an Tanjas muffige Wohnung denkt. Hätte ihre Schwiegertochter doch besser ihr die Bedienerin bezahlt. Nicht dass Marika es nicht einzufädeln versucht hat, aber die Schwiegertochter ist dahinter gekommen und hat es der Bedienerin verboten, heimlich in anderen Wohnungen zu putzen. Tanja hat selbst keine Kinder und hat es bis vor kurzem nie bereut.
Lässt der letzte der Gedanken sich erfragen? Wo ist das Ende der Essenz?
Sie hat dafür die Welt gesehen, hat sie gelacht und mit dem Finger auf die vielen Fotoalben in der Wohnzimmervitrine gezeigt. Vergilbt und verstaubt stehen sie da bis heute, Marika kennt sie fast so auswendig wie Tanja. Einen zu haben, der später noch von ihr erzählen wird, wäre ihr jetzt vielleicht lieber.
Nichts als transformierter Sternenstaub bist du, Mensch. Ein Wimpernschlag am Weg wer weiß wohin.
Sie sagt nichts, aber Marika kann sie doch durchschauen.
Geboren aus den Spezifikationen deiner Welt. Ein löchriges Gefäß, das schöpft, entnimmt und ändert, einfließt. Unter Vielen nur eine Ableitung des Zieles, ihm stets Funktion und allerhöchstens etwas experimentell. Was zählt zuguterletzt - Form oder Betrag?
Der Bus fährt ein und ist fast leer. Sie kann es nicht erklären, Marika ist enttäuscht. Als hätte sie darauf gewartet, im Bus jemanden wieder zu treffen. Dabei gibt es kaum noch jemanden wieder zu treffen. Marika fühlt, wie der Busfahrer sie beim Einsteigen beobachtet. Da fällt es gleich doppelt schwer, sich nicht dumm anzustellen. Vor Anstrengung kaut sie ihr Gebiss ganz schnell, da beißt es in die Wange. Marika lässt sich nichts anmerken. Nach unzähligen Versuchen schafft Marika es in den Bus, ein netter junger Mann hat ihr geholfen. Verlegen nimmt sie am Seniorensitz rechts vorne Platz. Hier kann Marika das Straßengeschehen so gut überblicken, dass es ihr fast vorkommt als säße sie am Lenkerplatz. Marika ist gerne Auto gefahren, aber jetzt nicht mehr, ihre Augen sind müde, ihre Ohren auch, aber verboten hat es ihr Sohn erst als die Wasserfüße kamen, weil man mit denen die Pedale nicht gut trifft. Sie hat es eingesehen und ihn ihr Auto schweren Herzens verkaufen lassen. Seit dem stellt sie sich im Bus gerne vor, wie sie den Wagen lenkt. Es hält den Geist wach, auf den Verkehr zu achten, in Gedanken mitzulenken. Marikas Beine pulsieren von der Anstrengung. Sie pfriemelt das Schmerzmittel aus der Handtasche. Die Verpackung will nicht freiwillig aufgehen. Die bösen grauen Augen lassen Marika keinen Frieden.
Wie ist die Kluft geartet zwischen Ewig- und Vergänglichkeit?
Zeit ihres Lebens war Marika eine friedfertige Person, lebensfroh aber nur mäßig neugierig.
Was stirbt kann neue Form erlangen - was in Erinnerung gerät, erstarrt, verwehrt sich neuem Leben.
Konflikten ist sie lieber großräumig ausgewichen. Aber je älter sie wird, je weniger sie zu verlieren hat, desto öfter stellt sie sich die Frage, was es noch so zu erleben gäbe. Wenn man nur den Mut aufbrächte. Bis vor kurzem hat Marika Tanja nie um ihr unstetes Leben beneidet.
Marika stopft die Schmerzmittelpackung zurück in die Tasche und kramt nach ihrem Schlüsselbund. Immer dicker ist er über die Jahre geworden. Viele der Schlüssel an ihm sperren nicht mehr, aber Marika kann sie nicht wegwerfen. Jetzt gerade erscheint er ihr auch wie eine Prothese, mit all den Erinnerungen, die an ihm herunterbaumeln. Zwei davon entsperren den Eingang zur Korbergasse 15, Tür 11. An der Station Steinhagegasse steigt Marika aus. Hinaus geht es viel leichter als hinein. Gleich um die ewig weit entfernte Ecke wohnt Tanja. Der Stadtnovemberwind bläst Marika rau entgegen.
Das Später ist dem Früher ebenbürtig.
Benzin, Asphalt, saubere Kälte und das letzte welke Laub.
Was ist des Lebens unsterbliche Prise? Der Funke namens Individualität, durchzuckt von tausend Leben, tausend Toden. So strahlt Vergangenes in Richtung ungeahnter Existenzen - der Zukunft immer schon den Schritt voraus.
Marika braucht beide Hände, um das schwere Schloss am Haustor in Bewegung zu setzen. Den Stock lehnt sie an den anderen Flügel und stemmt sich mit der Schulter gegen die Eisenstäbe. Sie kann das schwere Tor nur einen Spalt breit öffnen, aber es reicht, um den Stock hineinzustellen und wie einen Hebel zu bedienen. Immer noch wehrt sich das Tor.
Der letzte der Gedanken ist von niemandem zu denken - der Weisheit letzter Schluss wird jedes Mal im neuen Anfang münden.
Schwer fällt der Torflügel gleich hinter Marika ins Schloss. Düstere Muffigkeit umfängt sie.
Sie nimmt den Lift in den zweiten Stock. Die Korbergassenwohnungstür lässt sich leicht öffnen. Marika grüßt im Vorzimmer, aber Tanja kommt ihr nicht entgegen. Sie knöpft den Mantel auf und löst den Schal. An der Garderobe abgestützt führt sie zuerst den einen, dann den andren Fuß in den Stiefelknecht und unbeschuht wieder heraus. Sie grüßt noch einmal und schlüpft in Tanjas Zweitpantoffeln. Marika wagt sich ins Wohnzimmer vor. Dort sitzt Tanja ganz ruhig in ihrem Ohrensessel, die grauen Augen sanft geschlossen. Mit einem Seufzen nimmt Marika am Sofa Platz, Tanja gegenüber. Sie lächelt der Vitrine zu. Und lässt auch ihre Lider sinken.