Samstag, 25. Juni 2011

(Welt = Alles : Mensch?)


„Muss man sich der eigenen Punchlines (= Kalauer/ Sager) bewusst sein? Oder passieren die eben?“ Dürfen die das? 
Kant räumt ein, dass das System, als das wir unsere Umwelt betrachten, einzig unserem Verstand entspringt. Ebenso erfasst er die Erfahrung an sich als geistiges Konzept, nicht als willkürliche Anhäufung von Ereignissen (denn wie anders als durch die Urteilskraft wären diese zu bemessen?), sondern als Konsequenz, Ursprung und Reinform gleichermaßen, steht die Idee. Anders ausgedrückt: Das Besondere, das Konkrete, wird durch den Fleischwolf unserer Weltanschauung, unserer allgemeinen Vorstellungen gedreht, bis am Ende ein uns logisches Ergebnis herauskommt, das sich unseren Prämissen fügt. Durch Abstraktion, durch das Weglassen unwichtiger bzw. irritierender Details, mit Hilfe fiktiver Ergänzungen wo immer nötig und Dank (oder trotz?) einer stets situationsabhängigen Perspektive gelingt es uns, Zusammenhänge zu interpretieren, Schemen wieder zu erkennen, Schlüsse zu ziehen. Das Maß ebendieses Abstraktionsprozesses ist es, das für uns den Sinngehalt einer Sache bestimmt. Das Maß der Vereinfachung gibt, seinerseits beurteilt, Aufschluss über die Art und letzten Endes die Ernsthaftigkeit der getanen Interpretation. In der besonderen Berücksichtigung "aller" Faktoren im Umfeld empfinden wir z.B. eine Aussage als wissenschaftlich, auf den Situationsgehalt ohne Querbezüge reduziert als informativ, als Essenz ihrer Schlagworte als trivial und in der Verkehrung ins Gegenteil als humoristisch. Nichts desto Trotz ist jene Aussage, die wir als Beispiel heranziehen, von Anfang an ein reines Objekt unserer Vorstellung, ob in der wissenschaftlichen Betrachtungsweise oder in der humoristischen, bleibt sie Interpretation der Welt. Die Fähigkeit zur Abstraktion ermöglicht erst unsere Existenz als denkende Spezies, die mit nichts als Ihrem Verstand (und Glück vermutlich) den gesamten Planeten unterworfen hat.
Gleichermaßen Konsequenz der Reduktion wie auch Bedingung ist die Vorstellungskraft. Sie bringt uns in die Lage, Situationen zu präsumieren, uns nach noch nicht Gesehenem zu verzehren, uns über Hörensagen zu empören und über Komisches zu lachen. Je weniger abstrahiert sich uns ein Sachverhalt darstellt, umso mehr Glaubwürdigkeit messen wir ihm bei, aber umso weniger anwendbar scheint er uns auch auf Belange des täglichen Lebens. Insofern ist es der Zeit und der Gewohnheit geschuldet, dass Sachverhalte, Inhalte, Erkenntnisse sich mit der Zeit abschleifen auf das Gerüst ihrer Überschriften, bis sich ein festes, wenn auch nicht mehr nachvollziehbares Regelwerk ergibt. Aus spiritueller Überzeugung wird ritualisierte Religion, aus Idealismus wird strikte Ideologie usw. Ein Gegenbeispiel, um den negativen Beigeschmack dieser Aussage zu mildern, sind Bauernregeln, die einer gewissen Zuverlässigkeit nicht entbehren. Es ist nicht notwendig, sich mit der Meteorologie auseinanderzusetzen, um das Regelsystem anzuwenden, das einen (mit Toleranz einer Fehlerquote) zu einer erfolgreichen Arbeitsweise führt. Ebensolches könnte man über die Astrologie behaupten, die nichts Anderes tut, als komplexe Individuen auf anteilige Eigenschaften von zwölf Archetypen herunter zu brechen.
In Maßen ist diese Abstraktion notwendig, um nicht jedes Mal ganz von vorne anzufangen. Jede Weiterentwicklung bedarf einer Basis, auf der sie sich entwickeln kann. Ohne gültige Prämissen gibt es keine Ableitungen für das Alltagsleben, ohne Einigung auf Gesetze ist kein gesellschaftliches Zusammenleben möglich. Wird diese Basis aber überhaupt nicht hinterfragt und erstarren Erkenntnisse zu stumpfen Verhaltensregeln, die sich über deren ursprünglichen Sinn stellen, kommt die Gesellschaft ebenfalls zum Stillstand. Dieses menschliche Dilemma macht uns letzten Endes aus.

Hinzu kommt die jeweils situationsspezifische Logik, die sich aus vielen Faktoren zusammensetzt und ebenfalls maßgeblich für die momentane Gültigkeit einer jeden Aussage ist. Roman Jakobson unterscheidet fünf grundlegende Funktionen der Sprache, wie sie in jeder Äußerung zum Tragen kommen und einander gegenseitig beeinflussen. In jedem Satz, den wir sprechen und noch viel mehr in denen, die wir schreiben, setzen wir die Worte auch nach poetischen (ästhetischen) Kriterien nacheinander. Wir wählen unsere Ausdrucksweise nicht völlig willkürlich, wir unterwerfen sie gewissen Gesetzen, die sich je nach Situation unterscheiden, und unwillkürlich nuancieren wir damit auch ihren Inhalt. Ebenso reiht die Musik, sei es aus gesellschaftlicher Konvention, nicht willkürlich Töne nacheinander sondern folgt einem strikten Regelwerk, dem sie sich nicht entziehen kann und das stets ihren Ausdruck mitbestimmt. Überschreitet die Reproduktion allerdings ein gewisses Maß, wird sie zur Bedrohung für die getane Aussage. Sie verliert ihre Glaubwürdigkeit. Wenn ein Regelwerk in dem Maße die Gesellschaft durchsetzt hat, dass es über der ihm zu Grunde liegenden Erkenntnis steht, wird es zur Bedrohung für die geistige Reife ihrer Mitglieder. Beispiele finden sich quer durch die Menschheitsgeschichte: Im Mittelalter die kirchliche Doktrin, in totalitären Regimen die Propaganda, im Kapitalismus das Marketing.
Sie alle bedienen sich der menschlichen Fähigkeit und dem Willen zur Vereinfachung, indem sie die Ableitungen ihrer Lehre als einfache, leicht zu merkende Gesetze formulieren.
Wie von selbst ergibt sich aus der anderen Seite menschlichen Verhaltens, dem steten Hinterfragen, ein Konflikt mit solch sinnentleerten Floskeln, wann immer es keine zureichende Antwort mehr auf das "Warum?" gibt. Als weiterer Faktor dieser komplexen Gleichung kommt nämlich unsere Auffassung unserer selbst als Individuen zu tragen. Dies macht sich ebenda bemerkbar, als wir umso abstraktere Aussagen umso selektiver beurteilen. Je wissenschaftlicher getätigt, desto weniger problematisch erscheint uns eine These, wenngleich sie von außen betrachtet wieder nur aus menschlicher Perspektive Gültigkeit besitzt. (Am Rande sei erwähnt, dass jüngste astronomische und physikalische Erkenntnisse nahe legen, dass unser Universum überhaupt nur zu 4% aus Atomen besteht.)
Aus dieser Distanz betrachtet ist menschliches Handeln generell ein sehr abstraktes Glaubensbekenntnis, und es ist geradezu erstaunlich, mit wie viel Eifer wir jedes Mal aufs neue unsere Überzeugungen behaupten wollen.
Je vereinfachter eine Aussage, desto weniger flexibel ist sie, umso weniger kann sie angepasst werden, umso stärker muss sie verteidigt werden. Dennoch ist gerade in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft, mit immer mehr höchst spezialisierten Mitgliedern eine vereinfachende, allgemein gültige Alltagskommunikation von Nöten, weil jeder eine andere Fachsprache spricht. Umso interessanter die parallele Entwicklung hochkomplexer, internationaler Forschung und globalisierter Wirtschaft mit einer vereinfachten Business-Sprache, die mehr und mehr eigener Komplexität entbehrt, sowie die Zunahme der Bildhaftigkeit insbesondere in der Marktkommunikation, aber auch in anderen Bereichen, beispielsweise gibt es auf der Universität kaum noch Vorlesungen ohne Power-Point-Präsentation.
Abstraktion ist also für Menschen ebenso unentbehrlich wie auch gefährlich, und ebenso ist es die Paraphrase. Etwas ist nie "wie etwas Anderes", ein Sachverhalt kann, anders ausgedrückt, nicht der gleiche Gedanke sein, und dennoch fühlen wir an gewissen Stellen Überschneidungen und Ähnlichkeiten, fühlen uns aus unserem Erfahrungsschatz heraus an etwas erinnert, das uns bekannt und damit gültig erscheint. Siehe den Vergleich unseres Verstandes mit dem Fleischwolf im ersten Absatz dieses Essays, der in anderem Zusammenhang wohlgemerkt kaum Gültigkeit besitzen dürfte. Für die Autorin und die LeserInnen dieses Textes ergibt sich damit wiederum ein Bild, das Außenstehenden nicht den gleichen Sinn erschließt, und selbst in den Köpfen der LeserInnen ergeben sich unterschiedliche Bilder, je nach dem eigenen Erfahrungsschatz verschieden. Einprägsamer als die theoretisierende Herangehensweise bleibt eine solche Ausdrucksweise in den Köpfen derer hängen, die die zu Grunde liegenden Gedanken nachvollziehen können, doch wird sie nutzlos ohne deren Grundlage.
Auf der anderen Seite kann das Transferieren eines Problems auf eine andere Ebene gerade zu dessen Lösung beitragen, bzw die Erkenntnis in der Distanz gefunden werden. So bedient sich die Kindererziehung in vielen Kulturen lehrreicher Geschichten, die eine bestimmte Erkenntnis, eine „Moral von der Geschichte“ nahelegen sollen. Gerade in der indischen Kultur findet sich eine bemerkenswerte Vielfalt solcher Lehrgeschichten, mit oft (beabsichtigt) zweideutigen oder gar widersprüchlichen Aussagen. Solche Fabeln sollten Königskinder auf ihre komplexen Aufgaben als zukünftige Herrscher vorbereiten. Was diese Form der Paraphrase allerdings von Propaganda oder Doktrin unterscheidet, ist die distanzierte Perspektive, die erst den oder die LeserIn, den oder die HörerIn, die Erkenntnis finden lässt. Der Sinn ist nicht von einer Seite vorgegeben, sondern ergibt sich aus dem besonderen Zusammenspiel von HörerIn und ErzählerIn. Aus dem Besonderen (der spezifischen Geschichte) kann das Allgemeine abgeleitet werden, das auf andere Situationen Anwendung finden kann, wenn diese aus dem persönlichen Erfahrungsschatz daran erinnern. Es kann letztlich in jedem Besonderen etwas Allgemeines gefunden werden, jedoch lässt sich das Allgemeine nie vollständig auf das Besondere übertragen. Deshalb wird jede Aussage in dem Moment zur Bedrohung individueller Freiheit, da sie Allgemeingültigkeit behauptet. Da sie den Anspruch erhebt, für den/ die EinzelneN Gültigkeit zu besitzen, anstatt ihm/ ihr einzuräumen, aus seiner/ ihrer Perspektive selbst die Parameter zu prüfen und gültige Aussagen zu formulieren.