Donnerstag, 6. Oktober 2011

Willkommen im Pluralismus

Oktober 2011
mit Dank an Dagmar Leupold

Wenn man einwilligt, marktkompatibel zu schreiben, gibt man eine der genuinen Aufgaben des Schreibens kampflos auf.

Sagt Dagmar Leupold ganz vorne im Seminar, hinter dem gewichtigen Pult sitzend, und ganz hinten in dem Hörsaal, in der vorletzten Reihe, in mir, regt sich Widerspruch.

Sollte man nicht, gerade in Zeiten des überhandnehmenden Mainstreams, diesen als Mittel der Demokratisierung verstehen, ja die Möglichkeit der Teilnahme und Mitbestimmung aller Individuen, unabhängig von deren gesellschaftlicher Position und Bildung feiern und nützen, und sich selbst nach Kräften bemühen, mit den eigenen Überzeugungen ein Teil davon zu werden, sich der brutalen Evolution der Ideen in einer Weise aussetzen, dass jeder und jede über sie richten kann, anstatt sich in der eigenen Nische zu verschanzen und einander gegenseitig unter intellektuell Gleichgesinnten die Schultern zu tätscheln?

Nur könne man nicht davon ausgehen, dass der gepriesene Individualismus, die Selbstdarstellung dieser Tage, mit tatsächlicher geistiger Autonomie zu vergleichen wäre... so oder so ähnlich klingt die Antwort, die wortgetreu wiederzugeben ich leider nicht mehr im Stande bin, und klingt noch ein paar Absätze weiter, die ich freundlich, und hörig der größeren Lebenserfahrung, abnicke. Währenddessen jedoch schweife ich geistig ab, kaue an dem sich über den Saal legenden Generationskonflikt, spüre, dass ein Paradigmenwechsel unüberwindbar zwischen uns steht.

Schreiben, als Anspruch, ist eine Unmöglichkeit. Künstler sein, ist eine Unmöglichkeit. Das Werk ist eine Unmöglichkeit. Als wohlerzogene Linke einer 68er-Elternhaus-Prägung möchte auch ich argumentieren, alles sei dem Kapitalismus zum Opfer gefallen. Einer schemenhaften Eiswürfelform von Individualismus, die uns der freie Markt verkauft hat und die uns letztlich alle gleich aussehen lässt. Aber diese Stimmen in mir werden leiser, und ich muss nach und nach Abschied nehmen von meinen politischen Vorbildern. Denn: Der Kapitalismus selbst ist im Begriff, jener Entwicklung zum Opfer zu fallen. Was ein Individuum ist, das zu begreifen sind bisherige Generationen vielleicht nicht im Stande. Kaum bin ich es noch. Freiheit und Gleichheit gehen seit dreihundert Jahren in Parolen Hand in Hand. Dieselbe Riege Freigeister aber, die jene prägte, verwehrt sich der Unterschiedslosigkeit am heftigsten. Mein eigner Geist, zu verbildet in der bisherigen Weltordnung, um sich euphorisch auf eine neue zu stürzen, wittert den Wandel. Transformation geht mit Schmerz einher, denn sie bedeutet Absterben und Neugeboren werden. Das große Vergangene lobend, betrauert er die großen Individuen der Geschichte. Künstler, Forscher, Politiker, Geistespioniere. Ganz vergessend, wie wenige sie waren und wie vieler namenloser Schultern es bedurfte, sie zu ihrer Größe emporsteigen zu lassen. Wir bürgerlich-grüne Individualisten beklagen heute die Zerstückelung des Individuums in marktgerechte Portionen. Übersehen den Zerfall unseres Weltbilds in ebensolche Einheiten. Das Fest des Individualismus hat gerade erst begonnen und seine stetige Kritik lässt ihn erblühen. Die Abkehr und der strukturelle Vertrauensverlust, noch mehr das Desinteresse an bisherigen Wertmodellen lassen uns, und stärker die nach uns Kommenden, zu gänzlich neuer Form finden. Die paneuropäischen unibrennt-Proteste, die grüne Revolution und ihre Schwesternbewegungen quer durch die Arabische Welt. Die Wall Street Blockade. Wiki Leaks. Anonymous. Twitter. Facebook. Youtube. KinoX.to. Keiner ist mehr sicher, jeder gläsern. Institutionen werden machtlos im Angesicht der Wucht von unzählbaren Einzelnen. Wikipedia, die freie Enzyklopädie kommt ohne statisches Lektorat aus, im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends löst sie die Yongle-Dadian nach 500 Jahren als umfangreichste enzyklopädische Wissensansammlung ab. Dieser Prozess erscheint als unabwendbare Entwicklung aus dem gesellschaftlichen Status quo, wie jede vorangegangene, wie jede folgende, eine Notwendigkeit entstanden aus sich selbst schreibenden Gesetzen.



Die Schnecke baut ihr Haus nicht, es wächst ihr aus dem Leib.
                                                                                                G.C. Lichtenberg
Zitiert Dagmar Leupold im Seminar, und ich kann ihr nur beipflichten, das Zitat zitieren, sie ahnt nicht, dass ich es tue, und schon gar nicht, in welchem Zusammenhang.

Jeder kann alles, jeder ist alles, temporär. Diese Geisteshaltung erwächst aus der Modulgesellschaft. Sie heilt und schwächt uns gleichermaßen, weit von der Umsetzung in alltägliche Realität, so wie die Ideale jeder Zeit kaum etwas mit ihrer gesellschaftlichen Basis teilten.

Autorschaft ist eine Unmöglichkeit. Wir sind viele. Jeder sich selbst am nächsten. Aber keiner mehr über dem/der Anderen stehend. Unterschiede aller Art beziehen sich nicht länger auf Gruppen, in die es sich zu pressen gilt, nur noch auf jeden/jede Einzelne/n. Konsumiert wird die Auswahl an Möglichkeiten, die Einteilung in Module, noch als Einschränkung empfunden, wo nicht verstanden wird, dass diese selbst sich ständig nach Bedarf verändern. Keine/r ist in ihrer/ seiner Funktion noch über Zweifel erhaben, nichts und niemand mehr für sich, nur für die Tat, für den Impuls gefeiert.

Ich bin schwul ich bin jüdisch und ein Kommunist dazu, ich bin schwarz und behindert doch genauso Mensch wie du(... )
( ...) Du bist einer von Milliarden und das musst du akzeptieren, du bist einer von Milliarden Ärschen auf der Welt.
                                                                                    WIZO, 1994

Es beginnt. Etwas Großes. Etwas, dessen Grundstein schon vor Jahrhunderten gelegt wurde, das sich zusehends verdichtete, etwas, das letzten Endes alles Bisherige vernichten, fressen wird. Es hat mit Kapitalismus gleichermaßen zu tun wie mit Kommunismus oder der Evolutionstheorie, noch etwas mehr vielleicht mit dem Internet: Alles an Wissen und beinahe jede Möglichkeit stehen jeder/m von uns offen. Alles für alle, und mehr für mich. 

So lautet die Doktrin der Humanisten, der Linken seit je her: Es geht um die Gemeinsamkeiten, nicht die Unterschiede. Nun schimpft der eitle Freigeist die neue Masse uniformiert. Doch hat sie sich ein Maß an Freiheit zueigen gemacht, das ihr nie zuvor zuteil geworden war. Ich als Einzelne, als Reiche oder Intellektuelle, kann nicht länger als Vorbild, Vorreiterin bestehen. Eine tödliche Pille muss ich wie jede/r Schaffende nun schlucken. Die uns auszeichnenden Elemente werden von uns abgeschlagen und geschwisterlich unter allen aufgeteilt. Karikiert und schemenhaft, jawoll in Massenproduktion. Lieblos und sinnentleert vielleicht, aber zum ersten Mal für jedermann und jederfrau verfügbar.
Kulturelle, regionale, gruppierte Unterschiede werden hinfällig. Nur eins von eins ist noch zu unterscheiden, und hier der Drang nach Gleichheit groß. Darüber kann der Denker und die Denkerin nur naserümpfen, versteht er/sie doch die Reinform viel besser zu genießen.

Jeder Mensch ist ein Künstler.
                                                Joseph Beuys

Eliten werden abgeschafft. Global, über kurz oder lang. Der Westen muss seine Arroganz hinunterschlucken, symbolisch kastriert vor zehn Jahren, trotz oder wegen seiner Errungenschaften. Die Religionen bäumen sich auf in einem letzten Todeskampf, verlieren ihre Autorität über durch Empirie befreites Seelenheil. Staaten brauchen bald schon keine Herrscher, Demokratie keine Repräsentanten mehr. Monopolisten werden im Widerspruch des weltweiten Konsums untergehen. Idole fallen ihren Epigonen zum Opfer. Jede Autorität wird nach und nach beseitigt. Die Möglichkeiten des/der Einzelnen töten sie alle. Alles Bisherige wird entwertet. Im Mittelpunkt steht nur noch eines/alles: Die Idee. Das Kollektiv. Wir sind viele.

Kunst ist ab sofort eine Unmöglichkeit, wo immer sie eine Trennung zwischen Künstler und Publikum verlangt. Wir alle sind nur Keimbahn der Geschichte, die Gesellschaft ist unser Ganzes. Jeder von uns trägt Tod und Verderben in sich, aber nicht die Summe unserer Teile.

Das Ich endet hier. Ausgerechnet im Individualismus. Ein dialektischer Konflikt, den es in späteren Jahrhunderten zu lösen gilt.

Ich, der Anachronismus, ich, der Zerfall. In tausend Scherben liegend, immer tragisch - um nicht das Konkrete, den Scherz, das Leben hinzunehmen. Gerade am Beginn, die eigene Sterblichkeit zu erkennen, und dem All-Anspruch schon halb entwachsen, mich sträubend noch: Ich, das Ewige, ich die Konstante, dem immer Gültigen verpflichtet. Unmöglich, Individuum zu werden, kein Schritt folgt dem anderen, sie kommen alle zugleich, in sämtliche Richtungen. Darum folgt nur eines, Stillstand, ich, der Stillstand, die Ahnung, der Plan, immerdar, kein Fortkommen, kein Fortschritt - weil allem verbunden, mit allem verwachsen, bis Konkretisierung mich ins Diesseits tötet.   M.W.

Kein Werk ist mehr als Durchlaufposten, gleichwertig neben jedem anderen. Kein/e SchöpferIn bald noch erhaben. Die Macht der/s Einzelnen zerstört Institutionen unabwendbar, spontane, temporäre Zweckgemeinschaft/ Selbstorganisation tritt an ihre Stelle. Tradition und Weitergabe wird aus dem Kulturbegriff getilgt. Wertfrei gesprochen, so scheint mir der notwendige Entwicklungsverlauf aus heutiger Perspektive. Weltweite Vereinfachung geht globalem Austausch voraus. Sprachlicher Symbolismus, von jeder kulturellen Doppelbödigkeit bereinigt, beschneidet die Bedeutungsebenen bis auf die eine informativen Sachgehalts. Satzzeichen, Klammern und Gedankenstriche werden zur universellen Mimik unserer Generation. Neuen Analphabetismus nennt man die aufkeimende Bildsprache, die uns Weltbürger auf einen Nenner bringt. Reduktion bedeutet auch das Destillieren der Essenz. Der Boden der Kultur wird festgetrampelt. Um eine neue Basis zu schaffen, bedarf es der Verdichtung.

Meine Bildung hab ich ausm Fernsehn / und du fragst mich was guckstn so viel Müll (... )
(...)nen harter Stuhl nen langweiliges Thema / um acht Uhr morgens lernen is schon schwer
auf meinem Sofa is es viel bequemer / von da zapp ich meine Lehrer hin und her (...)
Lucilectric, 1996

Wir stehen an der Schwelle eines Zeitenwechsels, deutlich spürbar und noch nicht zu fassen, denn: Wie könnte man jemals über die Gegenwart urteilen? Was Geschichte ist, und was nicht, ist von folgenden Generationen zu bestimmen, von späteren Siegern aufzuschreiben. Wir aber sind der Weg und der Weg ist das Ziel.

In den Gliedern dieser sonst so ungelenken Stadt / zuckt das Feuer das den Wunsch zum Leichtsinn hat / Wir fanden statt auf unserem Weg durch diese kurze Zeit / Der Glanz des Kampfs der Massen auf den Straßen / Was uns eint ist weniger Gemeinsamkeit / Als der Weg durch diese kurze Zeit / In etwas das man nie verzeiht/ Wir sind nie allein / Die Wolke der Unwissenheit / Wird für immer bei uns sein / Vielleicht sind wir was sie träumt / Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht / Das Dickicht als ein Dickicht / Wo die Wege nur mehr Pfade seien / Wir sind nie allein / Die Wolke der Unwissenheit / Wird für immer bei uns sein
Tocotronic, 2002