Montag, 1. November 2010

Voyager

Diesen Joint hätte ich vielleicht nicht mit Menschen rauchen sollen, vor denen man so furchtbare Angst haben muss. Aber wir haben die Bestie doch ganz gut im Zaum gehalten, waren übertrieben höflich, freundlich, könnte man sagen, haben uns sogar anregend unterhalten. Alles war gut und noch besser als ich erwartet hätte. Beim Verarbeiten dieser Information sind meine kognitiven Schaltkreise so ausgelastet, dass für jede weitere Tätigkeit nur noch die instinktiven Notagregate zur Verfügung stehen. Gar kein Problem, ich kenne das Terrain, könnte schwören, dass ich es gänzlich ohne Bewusstsein passieren könnte. An der Bushaltestelle stehen zu bleiben fällt mir schwer, deshalb gehe ich auf und ab, erwarte dass das Nachdenken dadurch leichter werde, ähnlich dem Verdauen. Zwinge mich angesichts des kognitiven Ausnahmezustandes zum Stehenbleiben, Unterprozesse greifen nicht lange, ich gehe wieder, aber anders, ich habe eine bestimmte Zielrichtung - korrigiere: Zugrunde liegt kein Ziel-, sondern ein Fluchtpunkt: Etwas wuselt um die Ecke, mein visuelles System greift auf die kognitiven Speicher zu... es ist... dunkel... es hat... Beine... mehr als es sollte... es hat... ein Ziel: mich! Eine gigantische Spinne! Reaktion unmittelbar erforderlich! Errechne Reaktion... : SOFORT UMDREHEN!!! 
Die alte Frau erstarrt dreißig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Der Bus kommt um die Kurve. Sie sieht mich an, ich glaube: Schuldbewusst. Ich verpasse ihr einen Borg-Blick: Widerstand ist zwecklos! Sie dreht sich um ihren Gehstock und stakst dreibeinig auf den Bus zu, in ihn hinein, ich bleibe hinter ihr, auf Abstand, zwinge sie, sich in die vorderste Reihe links zu setzen, wo ich sie gut im Blick habe. Ich nehme zwei Reihen hinter ihr Platz und bewache sie. Da, sie dreht sich nach mir um! Ihr Nacken ist flinker als meiner - ich kann ihren Blick nicht stellen. Aber ich könnte schwören, ihr Gesicht war länger zu mir gedreht als ihr Genick. Weil ich gelernt habe, das so etwas nicht real ist, beginne ich, das Spiel zu genießen. Jetzt kann ich sie unmöglich aus den Augen lassen. Sie bemerkt es, da bin ich sicher. Nach wenigen Stationen, die nur schwach in mein Bewusstsein flackern, denn die Stimmen im Bus sind viel lauter als die grauen, tausendmal gesehenen Bilder vor dem Fenster, beginnt die Alte, mit mir zu sprechen. Sie dreht den Hals wieder zu mir und bewegt ihre Lippen - doch die Worte verlassen ihren Mund nicht. Ich reguliere am Pegel der Umgebungsgeräusche herum, sie werden dumpfer, sind weg: Wenn ich noch ein bisschen genauer hinhören würde... was, wie bitte, können Sie das noch einmal sagen? Zu spät. Während ich noch versuche, die Transmission zu entschlüsseln, steigt sie aus - und ist mit einem Mal verschwunden. Doch etwas hat sie im Bus hinterlassen, sie ist nicht zur Gänze gegangen, eine Essenz, die sich mit anderen vermischt. Mein Lächeln gefriert, als ich die beiden Fahrkartenkontrolleure bemerke - raus! Zu spät: Neben mir sitzt jemand, ich bin paralysiert, starre sie an, wie sie letzte Vereinbarungen vor ihrem Angriff treffen. Einen Augenblick später sind sie als Sportler entlarvt. Der eine hebt eine große, eckige Nylontasche mit der einen, und den Klotz aus meiner Magengrube mit der anderen Hand hoch. Sie setzen sich. Meine Starre hält an, und ich frage mich, welcher Gerechtigkeit es folgt, dass ich heute nicht beim Schwarzfahren erwischt werde. Aber mein Gerechtigkeitsempfinden scheint auf eine Art sehr einverstanden zu sein, deshalb habe ich keine weiteren Bedenken. Ich habe meine Station verpasst.
Meine Präsenz in der  äußeren Gesellschaftswelt ist reduziert, ich kann durch die anderen Fahrgäste hindurchgehen, ohne dass sie mich bemerken. Ich steige viel zu weit oben aus. Als die Tür aufgeht, strömt mir eine traurige Balkanmelodie entgegen. Sie kräuselt sich durch die Straßen und hallt von hunderten Fensterscheiben wieder. Eine zeitlang läuft sie mir nach, wann genau sie verschwindet, kann ich nicht sagen. Ich trage eine Schauerwolke vor mir her, den Hügel hinunter. Menschen blicken mich an, mit weit aufgerissenen Augen drehen sie sich um, die Quelle ihrer Beengung zu lokalisieren, todernst starre ich zurück. Auslagen, Krimskrams, Matratzen, Spielzeug für Erwachsene. Eine automatische Tür registriert mich mit einem höflichen Klicken, doch am Wochenende arbeitet sie nicht. Augen starren mich an, als ich um die Ecke gehe, unsere Blicke treffen sich, als wäre ich zu spät zu einem Rendez-Vous erschienen. Was sage ich dir? Mein Blick weicht aus. Kinderschühchen, glitzernde Schmetterlingsmagneten, denen sich selbst zu halten völlig ausreichend als Lebenszweck erscheint. Rhytmisch tanzende Plastikblumen, bunt angeschmierte graue Wände, grau angeschmierte bunte Wände. Viele Menschen stehen an der nächsten Busstation. Messerscharf schließe ich in einem Sekundenbruchteil, mache einen Uhrenvergleich mit dem Fahrplanaushang. In einer Minute kommt er.  Ungeduldig zappeln meine Beine, Stillstand erfordert viel mehr Energie als Bewegung. Der Bus ist noch nicht da. Gehen oder Warten? Ungeduld wird bestraft. Bequemlichkeit
auch. Was wohl aus der Alten geworden ist? Ich entschließe mich zu gehen, ich habe mit mir selbst noch Einiges zu klären. Anfangs warte ich noch auf den frustrierenden Anblick des vorbeifahrenden Busses. Dann ist es mir egal. An der nächsten Busstation warten wieder viele Menschen, ich lobe mich selbst für meine Entscheidung. Das Gehen tut gut. Etwas ist hell, es hat eine Farbe - unangenehm, pink. Ein Neonschild. Blumenläden, so viele Blumenläden, so viele Blumen, die in der Kälte stehen und sich über den Winter lustig machen. Hat gerade jemand etwas obszönes zu mir gesagt? Wie ein Bote ziehe ich von Station zu Station und die Wartenden verstehen ohne das ich ein Wort sage ... Zwischen dem Chinarestaurant und dem Reisebüro läuft jemand meinen exakten Antiweg. Fasznierend groß, faszinierend dünn und schlacksig, auf eine unwahrscheinlich steife Art, sein Kopf ist ihm zu groß und seine Brille noch einmal. Er mag es nicht, wie ich ihn anstarre, er kommt auf mich zu, ich beschleunige, weil ich Angst habe, dass wir uns bei einer Kollision neutralisieren würden. Während er mich in den Bann seiner Langsamkeit zieht, bringt er meine grüne Ampel zum Blinken. Zeitgleich mit mir überquert er im Neunziggradwinkel die Straße. Ich entkomme ihm. Gerade als ich in meine Gasse einbiege, bleibt der Bus auf der anderen Straßenseite stehen. Was für eine Lektion! Es wäre doch schade, wenn man die Logik des Universums verstünde... Pinkes Neonschild! Datenbanksuche abgeschlossen, Herkunft: BIPA, Billigparfümerie. Was hatte das dort eigentlich zu suchen?!

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