Samstag, 6. November 2010

Museo

Ich war den ganzen Tag durch die majestätischen Säle gewandelt, hatte mich winzig gefühlt zwischen den Meisterwerken, aber nicht weniger unsterblich. Hatte nach Erkenntnissen gesucht, in der kindischen Hoffnung, einen Zusammenhang des Schönen, ein Rezept zu finden in den Klängen der Farben, den Momenten, die Jahrhunderte gewährt hatten. Hatte aufmerksam der Geschichte jedes einzelnen Blickes gelauscht, bis mein eigener vor Anstrengung schon ganz verschleiert war, bis ich den einen nicht vom anderen unterscheiden und keine Szenerie im Ganzen mehr erfassen konnte. Erschöpft setzte ich mich schließlich auf eine der Bänke, in deren Blickfeld mir die ganze lange Flucht der Museumssäle noch gewaltiger erschien. Lange konnte ich noch nicht gesessen haben, als ich den Mann mit dem kantigen Gesicht neben mir bemerkte kam es mir vor, als hätte ich mich schon zu ihm auf die Bank gesetzt. Die Situation war mir unangenehm, ich wollte aufstehen und mich Anderem zuwenden, im Grunde wollte ich überhaupt schon gehen. Einen Sekundenbruchteil aber, bevor ich mich in Bewegung setzte, sah der Mann zu mir hinüber und sagte: "Guten Tag." Erschrocken blickte ich zurück, aber zu mehr war ich auch nicht im Stande. Ich erstarrte in dieser dramatischen Pose - ganz wie die Figuren in Öl und Leinwand rund um mich erstarrt waren.
 Dann, einige Sekunden später, brachte ich ein Räuspern und so etwas wie ein winziges Nicken fertig, und schließlich, noch etwas später, auch eine Art vokalisches Geräusch. Der Mann lachte ein kleines, schelmisches Lachen und fragte mich: "Haben Sie Zeit für einen Ausflug?" Zugegeben, ich war neugierig, welcher Art ein Ausflug mit diesem Fremden sein sollte, der offenbar willkürlich Menschen im Museum ansprach. Ich schüttelte dennoch den Kopf. Nein, ich hätte schon vor Stunden gehen wollen. Der ältliche Mann wandte das Gesicht ab und wog das Gewicht der Entscheidung in einer weich federnden Geste: "Es liegt mir fern, Sie von Wichtigerem abzuhalten. Nur eines verspreche ich Ihnen: Wenn sie jetzt aufstehen und gehen, werden Sie für den Rest Ihres Lebens an dieser Entscheidung zweifeln." Der Kerl missfiel mir zusehends. Wozu wollte er mich erpressen, und weshalb gelang es ihm so gut? "Wohin führt uns der Ausflug?" fragte ich. Er zuckte näckisch mit den Schultern. "Das meine Liebe, hängt allein an Ihnen."
 Ich war inzwischen sicher, dass es sich um die Avancen eines alten Schwerenöters handelte, er hatte mir meine ganzen schönen Kunstgedanken schon beinahe vertrieben, grollend erhob sich meine Alltagshaltung aus dem Taumel meiner Sinne. Im selben Moment schien der Fremde seltsam zu verblassen, das dunkle Sofa trat aus dem hellen Hemd hervor. Sieh an, ein handfestes Hirngespinst, sagte ich zu mir selbst und beobachtete interessiert das offensichtliche Dahinschwinden meines Verstandes. Schnell schickte ich alle Logik dorthin, wo der Pfeffer wächst und siehe da, der Mann gewann wieder Struktur. "Wer sind Sie?" fragte ich, misstrauisch und doch begeistert. Er lachte wieder. Er schien immer zu lachen, wenn er sprach. "Haben Sie sich diese Frage nicht gerade selbst beantwortet?" "Aber Namen kann ich Ihnen keinen geben." "Es wird sich einer finden", gab er zur Antwort und sprang auf, viel flinker, als ich es ihm zugetraut hätte. Er streckte mir seinen Arm entgegen, in einer altmodischen Höflichkeit, die ich an jedem Anderen kritisiert hätte. "Wohin?", ich zögerte noch, seiner Einladung zu folgen, ich war nicht sicher, ob ich alle Orte sehen wollte, an die er mich bringen konnte.
 "Vielleicht habe ich Zweifel über unsere Reisegemeinschaft offen gelassen, ich möchte mich in diesem Falle entschuldigen: Ich bin Ihr Begleiter, Sie selbst sind es, die unsere Expedition leiten wird." "Expedition?" "An einen beliebigen Punkt, den Ihr Vorstellungsvermögen hervorzubringen vermag." "Und an beliebig viele?" Zum ersten Mal lag etwas anderes als Heiterkeit in seiner Stimme, etwas wie Bedauern, als er verneinte. "Bloß an einen. Aus allen Möglichkeiten müssen Sie die Eine wählen. Zu diesem Zeitpunkt jedenfalls." Und aus dem letzten Satz lugte schon wieder ein Zipfel schelmischen Lachens. Ich überlegte. Ein Ort? Zögernd nahm ich seinen Arm. Seltsam, dachte ich, dass wir keiner Menschenseele begegneten, wenige Minuten zuvor war ich ständig über Reisegruppen gestolpert, hatte mich durch Schulklassen gekämpft. In einem Nebenraum, der mir zuvor nicht aufgefallen war, schlug er einen samtenen Vorhang zur Seite und gab den Blick frei auf zwei Fenster, die in den angrenzenden Park wiesen. Fragend blickte ich ihn an. "Es wird nichts geschehen, wenn Sie es nicht wünschen." leise, beschwichtigend sprach er in mein Ohr und wies mit der linken Hand zwischen die beiden Fenster. Da bemerkte ich sie: Die nahezu unsichtbare Tapetentür, die, sofern man in dieser Situation dem Raumgefüge hätte trauen können, direkt aus dem dritten Stock ins Freie führen musste. Ein Ort.
Die Berührung meiner Fingerspitzen reichte aus, den Eingang aufspringen zu lassen. Wir schritten hindurch, wie selbstverständlich machte ich meine Augen zu, gleich hinter uns fiel die leichte Tür mit einem winzigen Geräusch ins Schloss. Ein diffuses Rauschen drang an meine Ohren - nicht unmelodisch, es hätte eine Sinfonie sein können, ebenso gut aber der Klang einer vertrauten Stimme, das Surren einer Waschmaschine im Schleudergang, plätscherndes Wasser oder Vogelgezwitscher. Das Geräusch ging schier nahtlos in ein fühlbares Prickeln über, als wäre ich in ein Glas Zitronenbrause gefallen. Elektrizität, schoss es mir durch den Kopf, da öffnete ich unwillkürlich meine Augen. Ich fand mich an einer Küste wieder, deren Anmutung mir zunächst nicht anders als bleiern zu beschreiben in den Sinn kam. Spröde Felsen, feiner Kies, der wogende Ozean, ja selbst die Wolken am Himmel schienen aus hell schimmerndem Blei gegossen, und in Sekundenschnelle abgekühlt, erstarrt in der Bewegung. Die jenem Orte innewohnende Lebendigkeit hatte doch mehr mit Quecksilber gemein als mit schwerem Blei, in dem Surren lag die Sehnsucht nach Berührung und Veränderung, als wolle alles hier zur Verwandlung genutzt werden, ohne sich deshalb auf eine Gestalt festzulegen. Eine Weile stand ich da und staunte, vergaß vor Verblüffung beinahe zu atmen. Zu meinen Füßen lag eine große, bleierne Muschel. Ich hob sie auf, sie erschien mir leichter als eine Feder. Auf meinen Fingerspitzen balancierte ich das schöne Gebilde, und als ich sie rasch unter ihm wegzog, da verharrte es einige Momente an jener Stelle, bis es seinen langsam kreiselnden Sinkflug antrat. Unten angekommen aber zerbarst die Muschel wie eine Vase auf dem Steinboden. Stücke stoben nach allen Seiten auseinander, doch kamen sie nicht wieder auf, vielmehr veränderten sie ihre Form zu silbrigen Kugeln, von Murmel- bis Tennisballgröße, und flogen hinaus über den glitzernden Ozean, wie Seifenblasen aus Quecksilber. Ich sah mich nach meinem Begleiter um, der in höflichem Abstand zu mir stehen geblieben war und still, aber mit zuckenden Mundwinkeln, das Geschehen beobachtet hatte. Dankbar lächelte ich zurück. Mit einer kleinen Verbeugung reichte er mir seine Hand und ich nahm sie, denn spätestens hier waren alle meine Bedenken nichtig geworden. Mit einem Mal machte er einen Satz in die Höhe, stieg auf in die Lüfte und riss mich mit sich. Ich erschrak, wenn auch weniger, als den Umständen angemessen gewesen wäre, und als wir Hand in Hand immer höher stiegen, den Silberblasen hinterher, und das Zirpen des Weltalls, denn das und nichts Anderes musste jenes Knistern bedeuten, mich wie ein vibrierendes Luftkissen umfing, wurde ich euphorisch. "Wohin bringst du mich, du rätselhafter Fremder?" "Ich bin enttäuscht, dass du mich einen Fremden nennst." "Ach Grinsekatze, nimm es nicht so schwer. Erklär mir dann, weshalb kann ich mich nicht daran erinnern, dir je zuvor begegnet zu sein." "Wir sind uns mit Sicherheit schon hundert Mal begegnet. Früher sprachen wir wie enge Freunde. Ich hatte dein bedingungsloses Vertrauen." "Das hast du wieder." "So etwas solltest du nicht sagen. Behalte es lieber bei dir, dein Vertrauen." "Weshalb?" "Weil du sonst niemals über mich hinauswächst." Weiter sprachen wir nicht, denn am Horizont wurde ein bleierner Berg sichtbar, dessen Gipfel in Flammen stand. Darüber verschlug es mir die Sprache. Es kam mir in den Sinn, was das Ziel unserer Reise war, und ich mochte dem Gefühl kaum glauben. "Ist das...?" "...das prometheische Feuer.", er vollendete meinen Satz, feierlich, doch ohne einen Funken Sensation in seiner Stimme. "Wolltest du es nicht sehen?" "Aber wie kann all das hier existieren?" "Maße dir nicht an zu urteilen, was sein kann oder nicht. Schon gar nicht an diesem Ort, der so viel größer ist als du." "Sagtest du nicht, dies sei ein Ort aus meiner eigenen Phantasie?" "So ist es. Aber wolltest du nicht eben aus diesem Grund hier herkommen, um zu erfahren, welcher Quelle sie entspringt?" "Nur wie kann etwas größer sein als ich, wenn es doch aus mir kommt?" "Du glaubst es gründet sich in dir und hört an deiner Nasenspitze wieder auf?" Daraufhin lachte er lauter und länger und herzlicher, als ich es seiner koketten Heiterkeit zugetraut hätte.
 Wie kurz oder wie lange wir bis zu dem Berg geflogen waren, vermochte ich kaum zu sagen. Es hätte sich um Sekunden, oder auch um Stunden handeln können. Als wir direkt über der Bergspitze schwebten, erkannte ich in den Flammen einen Tempel von der Größe eines Gartenpavillons. Wir schwebten sanft in die äußere Umfriedung des kleinen Gebäudes und standen mitten in den meterhohen Flammenzungen, von Hitze unberührt. Im erhöhten Zentrum, einem spitz überdachten, von vier Säulen begrenzten Quader, stand einsam eine Marmortafel, auf der, wie konnte es anders sein, eine Inschrift schimmerte. Diesmal lächelte ich zuerst. "Was werde ich dort lesen?" "Was du lesen willst." "Nein, wenn du ein Freund bist, dann halte mich nicht länger hin: Was ist das hier? Verliere ich völlig den Verstand?" "Wenn es ein Wahn ist, was nützte es dir dann, mich, als einen Teil davon, danach zu fragen? Weshalb liest du nicht erst die Inschrift, und entscheidest dann." "Und wenn ich an das glaube, was dort geschrieben steht?" "Dann wird es wohl Teil deiner Wahrheit sein. Jetzt und hier." "Meiner Wahrheit?" Er trat ganz nah an mich heran. Sein Lächeln war ernsthafter geworden. Ehrlichkeit lag in seinem Blick. Er flüsterte: "Ein verwobener Faden, im Geflecht des fein gesponnenen Universums. Nicht mehr, nicht weniger, als jeder andre auch." Da hielt ich die Spannung nicht länger aus. Ich trat vor die Tafel und las:
Du hauchst der Welt Leben ein,
wo du sie als wahr empfindest.
Ich las es fünf Mal, zehn Mal, bis mir die Knie weich und bleischwer wurden und ich vor der Tafel niedersank. "Ich fürchte, das wird zu viel für mich. Sag mir doch endlich, wo wir hier sind!" "Es ist dein Ort. Du hast ihn benannt und ausgewählt." Angestrengt dachte ich nach - woran hatte ich gedacht, als wir durch diese Tür gegangen waren? "Das Vorstellungsvermögen... du sagtest, wir gehen an einen beliebigen Ort, den mein Vorstellungsvermögen hervorzubringen vermag. Ich wollte wissen, woher es kommt." "Hast du gefunden, was du gesucht hast?" Ich überlegte. "Ich glaube nicht, dass ich wirklich wusste, wonach ich da fragte." "Wenn du nicht wusstest, was du gesucht hast, dann hast du hier auch nichts gefunden. Denn letzten Endes kannst nur du selbst dir deine Antwort geben. " Er küsste meine Hand zum Abschied, und begann wieder zu verblassen. Ich erschrak. "He, warte!" rief ich. Und ich rief es laut. Während ich mich noch fragte, warum all diese Menschen mich anstarrten, begriff ich, dass ich wieder auf der dunklen Couch im Museum lag. Wieder - oder nicht viel mehr: Noch immer? Der feuchte Fleck an meiner Wange hatte jedenfalls ähnliche Ausmaße wie der an der Sofalehne, ich wischte meinen Mundwinkel trocken und rieb mir einen Moment lang die Augen. Hatte ich das alles nur geträumt? Benommen stand ich auf und verließ umgehend das Gebäude. Ich musste all das aufschreiben, und es dann schnellstmöglich vergessen, das sagte ich mir. Wie hatte die Inschrift noch einmal gelautet? Im Museumspark patrouillierten zwei seltsam epochenlos verkleidete Gestalten, die allerlei Führungen, Rundfahrten und Sight-Seeing-Tours feilboten. Ich hätte sie kaum bemerkt, hätte der eine der beiden nicht einen unglücklichen Schritt rückwärts getan, während ich seine Bahn mit überhöhter Geschwindigkeit kreuzte. So aber drehte er sich um nach dem Hindernis, was mich in die Lage brachte, meinen Lichtjahre entfernten Blick einzufangen und auf ihn zu richten. Da erkannte ich ihn. Ich schnappte nach Luft. "Sie..." Der Promoteur entschuldigte sich höflich und ging seiner Wege. Und auch wenn es nichts zu bedeuten hatte: Als ich ihm nachstarrte, zwinkerte er mir aus der Ferne zu.

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