Montag, 9. Januar 2012

Illusions of Paradise


oder die Kollektive Zwangsneurose


Ich habe Themen im Kopf, viele. Konstruierte, erlebte, unbewusste, und noch andere. Aber das ist das Thema, oder viel mehr der Punkt. Ich sehe lieber der Pflanze beim Aufrichten ihrer Blätter zur hellsten Stelle am fahlen Winterhimmel zu. Gegossen habe ich sie. Schreiben wollte ich. Die Aloe hinter unserem Steinkreis.

Wenn der Mond oben ist, ist das Meer oben. So einfach ist das.

Wenn du dein Geschirr abends in Salzwasser einweichst, wird es am nächsten Tag leichter sauber. Wenn du es mit Süßwasser wäschst, geht es ganz einfach. Aber dafür musst du bald neues holen. Liter für Liter auf deinen Schultern, aus dem sechs Kilometer entfernten Dorf.

"Weihnachten, die kollektive Zwangsneurose", sagt Marcus und wir schenken ihm trotzdem eine Flasche Disaronno.

Die ersten vier Nächte am Strand gab es kein Feuer. Tim ist enttäuscht.

Ich friere. Ich stehe auf, suche nach etwas, das Abhilfe schaffen kann, suche nach dem nächsten Satz. Ich denke an die Feuer, den Wind und die Brandung, die Steine. Jetzt möchte ich auch in die Flammen sehen, einen Moment lang gelingt es mir.

Wenn du das ganze Feuerholz verbrauchst, hast du morgen keines mehr. Dann musst du neues finden, weit hinten im Barranco. Dann realisierst du: Was du an einem Abend verbrennst, hat vielleicht zwanzig Jahre gebraucht um zu wachsen.
Welcome to a human desert, breathing illusions of paradise.
Stand auf einem Felsen an dem alten Weg, der näher dem Abhang über den felsigen Hügel führte. Den neuen haben sie nicht fertig gebaut, trotzdem ist er viel sicherer. Trotz der Absperrung lockt er viele Touristen in das Tal. Fünf oder sechs, fast jeden Tag.
Der Spruch wurde schon früher übermalt. Von seinem eigenen Urheber. "Irgendein Hippie hat sich drüber aufgeregt", erzählt Marcus.
Was die Arbeiter übermalt und beiseite geschafft haben, war ein Herz, das die Worte Santa Tierra Madre umgab. Wenn man weiß, welcher Felsen es war, auf dem sie standen, erkennt man ihn heute noch abseits, ganz nahe dem Abgrund stehen.

Ich wollte heute einen Tag lang fasten, nach Weihnachten und Silvester, nach dem Kulturschock. Aber ich denke die ganze Zeit an meinen leeren Magen. So viele Tätigkeiten erwarten von mir in Angriff genommen zu werden und fast alle erfordern es, dass ich an meinem Schreibtisch sitze. All das. Was zum Überleben essenziell wäre zählt nicht, oder wird von Anderen für mich gemacht. Wasser aus der Leitung, Strom aus der Dose. Geschirr-Spüler, Wasch-Maschine, Müll-Abfuhr. Es ist alles so abstrakt, dass es unmöglich wird, den Überblick zu behalten.

"Wenn wir heimkommen, setzen wir uns erst mal in ein Eck und schauen uns alles an." Sagt Wolfgang noch am Abflughafen. Einige Stunden später holen wir die kleine Macchina aus dem Rucksack und trinken Kaffee aus den Emailtassen. Noch etwas später liegen wir am Sofa, der Beamer läuft und wir ziehen uns rein, was es auf arte.tv so zu sehen gibt. Schockiert sind wir trotzdem.

Wir werden von meiner Mutter mit dem Auto vom Flughafen abgeholt. Es ist der 23. Dezember. Unterwegs macht sie nervöse Andeutungen, dass mit unserer Wohnung etwas passiert sei. Sie hatte den Schlüssel, zum Blumengießen.

Ich habe seit zehn Tagen nicht geduscht und selten so gut gerochen. Wenn man sich jeden Tag im Meer wäscht, wird man von innen heraus sauber. Meine Haut heilt. Bis wir Abreisen, sind wir beide schon fast ganz gesund. Meine Muskeln stählen sich am Rucksackschleppen, Mauerbauen, Holz holen. Am steinigen Boden ist jeder Schritt ein Ereignis. Wenn du dich vom Gehen ablenken lässt, holst du dir blaue und blutige Zehen. Das lernst du schnell. Wenn du wissen willst, was rund um dich passiert, bleib stehen und sieh dich um.
"Ich bin gerade fünf mal dem Meer nachgelaufen, und wieder weg, als die Welle kam. Bevor ich auf die Idee gekommen bin, die Schuhe auszuziehen", sagt Mattheus, der gerade erst angekommen ist, etwas früher am Tag. An unserem letzten Abend, nach dem Essen ist er den Topf spülen gegangen, runter ans Meer. Da musst du aufpassen, dass nicht eine größere Welle die Sachen mitnimmt, wenn du sie abstellst. Dazu musst du dir das Meer erst eine Weile ansehen.

Meine Mutter dreht das Licht in unserer Wohnung an. Es ist neu. Da hängt eine Lampe in unserem Vorzimmer. Im Küchenfenster hängt Weihnachtsschmuck, im Küchengang eine weitere unbekannte Lampe. Am WC auch, in die Küchenzeile ist eine Reihe Halogen-Spots eingelassen, die auf einen Bewegungssensor reagieren. Mir läuft es kalt über den Rücken.

Unser vierter Adventsonntag war sehr beschaulich. Tim und Marcus haben uns in unserem Steinkreis besucht, wir haben Kichererbsen mit Olivenöl, Zitrone und Knoblauch gekocht. Tim hat Zucchini mit Rosmarin gebraten, Fladenbrot muss man mit der Gabel einstechen, hat Marcus erklärt und es buk so wirklich schneller. Wir haben vier Teelichter angezündet und Marcus selbstangebautes Gras geraucht. Über uns der Sternenhimmel, Orion und Sirius, die das Zeitempfinden lenken. In der Ferne die Brandung der steigenden Flut, des steigenden Mondes.

Die vertrauten Bohrlöcher in der Küchenwand sind verputzt, im Arbeitszimmer: Noch eine Lampe, noch mehr Weihnachtsbeleuchtung. Nebst einer gigantischen Palme am Fensterbrett. Fast alle Zimmerpflanzen haben neue Übertöpfe bekommen. Der Boden ist von Neuem gesaugt und gewischt worden, die alten Teppiche sind versteckt. In der Küche stehen Süßigkeiten, Mineralwasser, Küchenrolle, auch Kühlschrank und Gefrierfach sind angefüllt.

Getrocknete Datteln und Feigen zum Kaffee sind das Nonplusultra in der Siestazeit, wo du nichts tun kannst, als an einem schattigen Ort zu sitzen und der Welt beim existieren zuzusehen. Vielleicht kannst du lesen oder plaudern, in der Maincave, wo man sich trifft und die große Macchina anwirft, wenn einer Wasser und Kaffeepulver, jemand anderer vielleicht noch ein paar Kekse spendiert. Was du vorher nicht gemacht hast, musst du später nachholen, bevor es dunkel wird. Sonst machst du es morgen. Auch egal. Es gibt eine Zeitqualität für jede Tätigkeit, wenn du es da machst, geht es am besten. Wenn die Sonne aufgeht, wachst du auf. Wenn du nicht aufstehst, wecken dich die Fliegen. Bevor es heiß wird, verstaust du Lebensmittel und alles Heikle. Wenn du am Abend etwas Sauberes anziehen möchtest, wäschst du lieber gleich deine Wäsche, damit sie über Mittag trocknen kann. Über die Steinmauer gehängt ergibt das einen tauglichen Kühlschrank. Wenn deine Vorräte zur Neige gehen, gehst du besser gleich los, Richtung Dorf, sonst verbringst du den ganzen Tag dort. Zur Siesta haben nämlich auch die Geschäfte geschlossen, bis auf den neuen Spar-Supermarkt.

In unserem Wohnzimmer steht ein raumhoher Christbaum, von mehr als vierzig Metern Lichterkette umschlungen. Nebst Leuchtkugeln mit Fernbedienung, neuem Vorhang vor der Terrassentür, einem festlichen Tischläufer und noch mehr Weihnachtsdekor. Nicht zu vergessen, eine weitere Lampe, die im Eck steht. Wir sagen artig: "Danke" und "gefällt uns". Meine Mutter bleibt nicht lange.
Wir setzen uns in ein Eck und schauen uns alles erst mal an.

Weil Tim sonst traurig wäre und weil er schon bald darauf abreisen muss, geben wir eben das erste Gastmahl der Saison. Offenbar ist das diesmal unsere Aufgabe. Aber es gibt immer die Feuer am Strand im Winter. "Die Community muss sich erst bilden. Die Leute treffen ja erst nach und nach ein" sagt Marcus mit Kennermiene.
Marcus, der Salzburger, unser Freund, den wir immer auf der Insel treffen. Zwei Jahre war er zwischendurch nicht da, erzählt er. Insgesamt hat er hier schon bald ein Jahrzehnt zugebracht. Er ist schon ein Teil des Tales. Trotzdem hat er sich an uns erinnert. Am Abend des vierten Advent kramt er ein himmelblaues Feuerzeug hervor, auf dem die Buchstaben M I O eingeritzt sind. Der kleine Mio, Franziskas Sohn, der wir hier vor vier Jahren begegnet sind. Eine schöne Zeit hatten wir damals zusammen, und Wolfgang hat das Feuerzeug graviert um Mio seinen Namen zu lehren.
Beim ersten Feuer lernen wir Cynthia und Stefan, Gerry und Raphael kennen. Gerry weiß gleich, wer wir sind. "Ah, you are staying in the Stonecircle, that looks like a neat little House without a roof?" Ich mag ihn auf Anhieb, wie jeden hier.
Raphael, der Windgeist, macht oft Aussagen wie: "Wann hast du das letzte Mal Plastik verbrannt?" oder "Einmal habe ich mich drei Tage lang als Bettler verkleidet. Und auch so gelebt. Das war zu Fasching." Vor seiner Abreise sagte er, er nähme das schöne Wetter jetzt mit.
Weshalb es vermutlich auch regnete, am darauffolgenden Tag. Das heißt, es tröpfelte für ein paar Minuten, an dem besagten vierten Advent. Entgegen einer Viermilliarden zu eins-Wette von Marcus gegen Cynthia. Marcus sagte dann, er habe vier Milliarden Steine gemeint.

Am Tag nach unserer Heimkunft ist plötzlich Weihnachten. Nicht viel zu tun, aber eine leichte Unsicherheit bei jeder Handlung, ob sie uns in dieser neueingerichteten Wohnung überhaupt gestattet sei. Gegen fünf sollte mein Vater kommen, mit dem wir den heiligen Abend verbringen wollen. Er hat keinen Baum besorgt und ist froh, dass bei uns schon einer rumsteht. Gegen sieben schleppen wir vier Säcke mit mehr oder weniger direkten Zutaten zu einem Weihnachtsmahl, darunter drei verschiedene Sorten Knödelteig, 1 Kilo Erdäpfel, Weihnachtskekse, Himbeeren, Trauben und frische Feigen sowie einen ganzen Einkaufssack voller Brot, nebst einem Sack mit Moos, einem Sack mit Steinen, einem Rindenstock und Krippenfiguren, deren Aufstellung in unserem Wohnzimmer er sich ausbedungen hat, in den dritten Stock, per Aufzug selbstverständlich.
Die Ente, welche den Hauptbestandteil unseres Weihnachtsessens ausmachen soll, entpuppt sich wenig später als noch gefroren.

Damit aus einem Eintopf überm Feuer ein Gastmahl wird, muss jeder etwas beitragen. Das Holz. Das Geschirr. Eine Dose Bohnen. Eine Avocado. Ein paar Tomaten. Etwas Knoblauch. Und soweiter. Aber vor allem sich selbst. Dasitzen, sich wärmen. Teilen, erzählen, zuhören.
Hari, den Yogi, hatten wir schon beim Einkaufen im Dorf kennengelernt. Er erzählt dir soviel du vertragen kannst vom Gleichgewicht zwischen Mann und Frau, den transformativen Kräften des Feuers und Gurus mit hundert goldenen Rolls Royce in der Garage. An dem Abend schwafelt er Tim ziemlich voll. Und teilt sein Gras.
Tim lebt normalerweise in einem Wohnwagen. Er hat Landschaftsarchitektur studiert und ist Vegetarier. Im Lorbeerwald im Norden der Insel hat er Esskastanien gesammelt um sie hier mit uns allen zu teilen.
Cynthia und Stefan wohnen jetzt auch hier. Irgendwoher haben sie Magic Mushrooms bekommen.

Ich denke schon wieder ans Essen. Du wirst von einem Fastentag nicht verhungern, sage ich mir. Zwischendurch stehe ich auf, gehe am vollen Kühlschrank vorbei, bleibe vorm Spiegel hängen und verunstalte mich. Am Strand gibt es keine Spiegel. Da bist du so schön wie du dich fühlst. Alle sind unheimlich schön, sobald sie nackt und mit Meerwasser gewaschen sind. Die Haut, die Haare, die Augen.

Wir schalten Ö1 ein, weil wir die Weihnachtsplatten meines Vaters erdrückend finden. Mein Vater kocht, baut Krippe, wir rauchen das letzte Gras aus dem Urlaub und unterhalten uns gut. Drei Stunden später gibt es Essen. Ente mit Traube und Dattel, Rotkraut und 3 verschiedene Knödelsorten.
Nach dem Essen erklärt mein Vater, er müsse jetzt noch die Geschenke einpacken. Es ist nach Mitternacht, der Baum unberührt, und irgendetwas, vielleicht die Musik im Radio, vermittelt den Eindruck, das Weihnachten vorüber ist. Mein Vater schließt sich in unserem Badezimmer ein. Wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich.
Als wir wieder aufwachen ist es zwei Uhr morgens, die Wohnung ist nach wie vor hell erleuchtet, das Radio spielt und unter dem Christbaum stehen zwei Stapel an Geschenken, je mit Namen versehen. Mein Vater ist verschwunden. Als ich ihn anrufe, um nach seinen Beweggründen zu forschen, sagt er mir am Telefon, wir müssten das nachholen. Wir hätten so nett geschlafen, da wollte er uns nicht wecken. Wir sollten die Geschenke so lange einfach stehen lassen.

Am Strand sind die Telefone aus. Sie sind aus, weil sie keinen Strom haben. Wenn sie Strom haben, sind sie aus um ihn für Notfälle zu sparen. Und niemand hat eine Uhr.
Ein Detail fehlt bei unserem ersten Gastmahl. Keiner hat ein Instrument dabei. Wenn du in Äquatornähe, auf einer Insel mit nicht allzuvielen Einwohnern, in den Sternenhimmel schaust, verstehst du, wie einfach die Zusammenhänge sind. Und du siehst unglaublich viele Sternschnuppen. Von einer habe ich mir Musik gewünscht. Hari war unheimlich beeindruckt, als sich der Wunsch schon am darauffolgenden Tag, in seinen Worten: materialisierte. Tim meinte, die Sternschnuppen hier funktionierten gut.
Zum nächsten Gastmahl kamen ein Gitarrist und noch ein Sänger, samt Gitarre, Knoblauch und Bier. Wenige Tage später traf auch ein Panhafter Flötenspieler ein und kurz vor unserer Abreise kamen noch Mattheus, sein Dänischer Freund mit der Gitarre und Jesse dazu.
Beim zweiten Feuer haben wir auch Gofio-Fladenbrot, süßen Reis mit Palmenhonig und handgepflückte Kastanien.
Hari meint, wir würden aber schwer am Rad drehen.
Tim war gleich morgens voll beladen mit Holz an unserem Steinkreis vorbeimarschiert. Für den Abend.
Stefan meint beim Essen, er liebe Gofio, das nichts weiter als geröstetes Maismehl ist. Man könne alles daraus machen, meint er, Brot, Kekse, vermutlich sogar Straßen. Ob sie den Weg in das Tal wohl auch aus Gofio gebaut hätten.

Der 25. Dezember bricht an und wir beginnen, die Spuren des Vorabends zu beseitigen. Wir bemühen uns, alles wieder so herzustellen, wie meine Mutter es arrangiert hatte. Die Überreste der Ente werden in den Gefrierschrank gezwängt. Die Geschenke unter den Divan. Der Brot-Sack wandert in die Abstellkammer, die Krippe, der es nicht an Schafen, Schäfern und Römern mangelt, der aber das Jesuskind fehlt, auf die Terrasse.
Als meine Mutter kommt, sind wir beinahe wieder entspannt. Wir kochen Rindsuppe und bekommen teure Geschenke. Sachen. Immer mehr Sachen. Noch mehr Sachen.

„Je mehr Dinge du hast,“ sagt Marcus, „desto mehr sitzt du fest. Die Dinge besitzen dich.“
In unserem Steinkreis standen unsere Rucksäcke rum, mit all dem Zeug aus Mitteleuropa, Reiseapotheke, Pässe, Tickets, Fotoapparat. Und sie nahmen selbst zusehends die Gestalt von Felsen an, weil sie so nützlicher sein würden. Am Strand brauchst du Steine, um einen Windschutz zu bauen, oder eine Feuerstelle. Um Sachen zu beschweren oder den Fußboden auszulegen. Du brauchst Holz, um ein Feuer zu machen, du brauchst volle und leere Wasserkanister, zum Waschen, für den Müll, als Trichter, du brauchst ein Messer, ein Ess- und/oder Trinkgefäß. Die meiste Zeit des Tages bist du nackt.

Klamotten, Bildbände, Spielfilme gibt es von meiner Mutter geschenkt. Danach zeigen wir ihr ein paar Fotos aus dem Urlaub. "Du lernst dort, dass jeder Schritt zählt", erkläre ich. "Aha, das ist ja sehr Zen-Buddhistisch" ist ihre Antwort. Begrifflichkeiten, für das Einfachste der Welt. Alles bekommt hier ein abstraktes Mäntelchen übergestülpt.
Am nächsten Tag früh aufstehen, hinaus fahren aufs Land, um mit der anderen Familie Weihnachten zu feiern. Es ist der 26. Dezember. Die Rucksäcke stehen noch immer in unserem Vorzimmer, unaufdringlich wie der Ort an dem sie waren, wir heben seinen Duft noch ein wenig darin auf.
Schnell, schnell, Geschenke einpacken. Schnell schnell, wir müssen den Zug erwischen. Der Fahrplan. Kein Sonnenstand, keine Gezeiten, weder Orion noch Mond. Am Bahnhof muss ich mich übergeben.

Am Abend vor unserer Abreise erzählt Cynthia, dass sie durch ganz Europa getrampt ist. Alleine. Von Deutschland nach Norwegen und von dort bis nach Südspanien. Sie erzählt von vielen aufregenden Momenten, anrührenden Begegnungen und glücklichen Fügungen. Als sie dann hier gelandet ist, hat sie Stefan kennengelernt. Gemeinsam sind sie jetzt zurückgekehrt, um hier zu leben, mal für ein Jahr, oder so.
Jesse taucht auf, mit der Gitarre des Dänen. Der war neu hier und hatte sich schon Sorgen gemacht, Jesse war irgendwo gewesen und der Pass steckte in der Gitarrentasche drin. Dann war er schlafen gegangen. Mattheus geht zu seiner Schlafstelle und sagt ihm bescheid, damit er gut schlafen und schön träumen kann. Jesse spielt. Traurig, fern. Dann reicht er die Gitarre an Marcus weiter. Sein Spiel fügt sich in das Schwingen der Nacht. Die Steine am Strand applaudieren nach jeder Welle. Jetzt applaudieren sie auch Marcus.
Mattheus spielt, laut und lustig. Wolfgangs Finger sind etwas eingerostet.
Ob du nach hinten ins Barranco gehst, zum Holz holen oder zum Meer hinunter, ob du Gitarre spielst oder Feuer machst, du musst dich hier auf das konzentrieren, was du gerade tust. „Entweder du bewegst dich federleicht, wie eine Bergziege von Stein zu Stein, oder du machst einen Riesenlärm und ziehst eine Spur der Verwüstung hinter dir her.“ So sagt es Wolfgang. Wer an den Strand kommt, ist hier um zu heilen oder zu lernen. An unserem letzten Abend gibt es Gemüseeintopf mit Käse. Später zum Nachtisch haben wir Kekse, Orangenlimonade und Bier.

Das Land-Familienprogramm ist bald abgehakt. Wir fahren noch am selben Abend wieder in die Stadt, denn am nächsten Morgen müssen wir beide zu unserer TCM-Ärztin. Davor aber lernen wir noch Verena kennen, die neue Freundin eines Freundes, unsere Silvestergesellschaft. Sie ist Performance-Künstlerin, eine Zeit lang hat sie als Fakirin gejobbt. Vielleicht kann sie uns für den Jahreswechsel Trips besorgen.
Der Abend des 27. Dezembers, noch eine Bescherung, noch einmal Weihnachtsmusik. Diesmal der vollzogene Akt: Wir dürfen die Geschenke meines Vaters in seinem Beisein öffnen. Er freut sich, wie immer nur bedingt über das, was er bekommt. Erwartungen.
Früher am Tag war ich in der Apotheke gewesen, um meine chinesische Kräutermischung abzuholen. Überschwänglich entschuldigte sich die Apothekerin dafür, dass das Präparat noch nicht fertig sei. In zehn Minuten sagt sie und ich bemerke, dass ich mit dieser Zeitangabe wenig anfangen kann. Ich nehme Platz, lächle. Ich strahle immer noch Sonne ab. Die Apothekerinnen wuseln höchst professionell von einer Kundschaft zur nächsten. Ich sehe mich um. Für jedes Weh-Wehchen ein Mittelchen. Eine ganze Wand voller medizinischer Pflegeprodukte. Drei Reihen Schuppenshampoo. Zwei Reihen Bodylotion. Zigfache Tages- und Nacht-, Antifalten- und Profeuchtigkeitscremes. Mir wird schwindlig davon. Bachblütenkaugummis geben einen Moment lang Anlass zu einer heiteren Unterhaltung, freundliche Stimmung kann sich ausbreiten, als wir darüber lachen, die Apothekerin, eine andere Kundin und ich, dass es "Ruhe und Gelassenheit" nur mit dem Verweis "für den Notfall" zu erwerben gibt.
Zwischen einer weiteren Kundin und einer Apothekerin entbrennt eine Diskussion darüber, ob sie eine Allergie oder einen gewöhnlichen Schnupfen hätte. Die Apothekerin weiß dazu viel zu sagen. Sie nennt eine Unzahl verschiedener Arzneien und deren Wirkungsweise. Die Kundin schüttelt dennoch unzufrieden den Kopf. Ich denke bei mir, dass sie hier vielleicht einfach weg muss. Dann würden die Beschwerden so oder so vergehen. Einfacher leben. So, wie es geht.
Mein Mittel ist nach unbestimmter Wartezeit fertig und ich bekomme noch ein Probe-Package einer etablierten Marke geschenkt, als Dankeschön dafür, dass ich nicht wütend auf die Theke gedroschen habe, oder so ähnlich. Thermalwasserspray ist darin, Abschminklotion, Körper- und Gesichtscreme in einem kleinen, weißen Necessaire, zuhause stelle ich es in ein Regal und schaue es vorerst nicht mehr an.

Als wir Abschied vom Strand nehmen, wachen wir mit dem ersten Morgenlicht auf. Wir lauschen noch einmal der Brandung und ihrem Applaus. Wir waschen uns ein letztes Mal im Meer. Als wir über den Hügel gehen, spielt der Pan uns sein Abschiedslied. Den Tag vor dem Abflug verbringen wir auf der Nachbarinsel, von wo aus wir die Heimreise antreten müssen. Hier kann man nicht am Strand schlafen, erklärt uns Marcus, zu viele Touristen, zu viel Kriminalität, zu viel Polizei. Wir nehmen ein kleines billiges Zimmer, ohne Fenster. Wir essen in einem Restaurant. Später streifen wir durch die Nacht, die Einheits-Touristenläden haben geschlossen, nur vereinzelt taumeln und torkeln noch Menschen über die Promenade. Wir treffen einen, der Seifenblasen macht, und geben ihm unser Kleingeld. Ein kleines Mädchen sieht ihm zu und möchte auch die Wollfäden an den Holzstecken in Lauge tauchen. Wolfgang fragt den Seifenblasenmacher, ob er eine rund um ihn ziehen kann. Der Versuch misslingt, aber wir haben Spaß. Eine sehr betrunkene Mutter auf sehr hohen Absätzen taucht auf. Sie hat einen Kinderwagen dabei, den sie als Gehhilfe benutzt, aber er kippt regelmäßig. Ihr Begleiter bietet dem kleinen Mädchen Obst an. Die Mutter fordert es auf, mitzukommen. Auch wir verabschieden uns und der Seifenblasenmacher bedankt sich für unsere Gesellschaft.
Wir treffen Einen, der Sandburgen baut. Gigantische Sandburgen. Auch er bekommt ein bisschen Kleingeld. Wir plaudern kurz und erfahren, dass es sich so auch leben lässt. Er baut Sandburgen, die Touristen geben ihm Geld. Dann zieht er weiter. Er ist Italiener und hat nie etwas Anderes gemacht. Wir sprechen vom Durchatmen auf der Nachbarinsel und davon, wo es hier gutes Gras zu kaufen gibt.
Wir finden die Bar trotz der Wegbeschreibung nicht auf Anhieb, aber zum Glück spricht uns unmittelbar vor dem Eingang ein Animateur an, der sich als einer der fünf Jungs herausstellt, die das Etablissement managen, nach dem wir suchen. Eine Clique junger Rumänen, die eine Chance auf den großen Erfolg, oder auch nur das gute Leben gewittert haben, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie zu viel koksen. Wir plaudern auf seiner Terrasse, trinken Tonic und rauchen erst mal einen. Wir schließen Freundschaft, kaufen ihm was ab und wünschen uns gegenseitig das Allerbeste für unser weiteres Leben.
Wir gehen die Strandpromenade entlang, bis zumindest die Betrunkenen aufhören, nicht aber die Hotelburgen, nicht aber der kilometerweit aufgeschüttete Sandstrand. Das Meer liegt still da, keine Regung ist zu erkennen.
Wenn ich vom Meer spreche, meine ich den Atlantik. Der Atlantik ist der Rock'n'Roller unter den Ozeanen. Er donnert seinen Beat gegen die Felsen, lässt sich für jede Welle Beifall spenden. Seine Gischt spritzt er dir immer ins Gesicht, oder an irgendeine erogene Stelle. Ich bin mir sicher, er macht das mit Absicht. Hier auf der Touristeninsel hat man ihn so gut man konnte unschädlich gemacht.

Unterm Schreiben wird die Sehnsucht größer, ich stehe auf. Ich krame Kleidungsstücke aus meinem Rucksack und vergrabe meine Nase darin. Wie sie duften. Ein Tuch für den Kopf ab der Mittagszeit, gegen den Sonnenstich. Ein Hemd für den Nachmittag, wenn die Sonne auf die Schultern brennt. Ein Wickelrock für den kühlen Abendwind, ein Pullover für die Nacht. Ich habe seit unserer Heimkunft nicht meine E-Mails abgerufen, auf mein Handy sehe ich im Durchschnitt einmal am Tag. Ich schreibe auf Papier und sträube mich, es abzutippen.

Wir setzen uns auf eine Bank mit Meerblick und beginnen von Neuem, Per Anhalter durch die Galaxis zu lesen. Etwas Anderes haben wir nicht dabei, aber es ist Entertainment genug.
In unserer billigen Pension gibt es fließendes Warmwasser aus der Leitung. Wir schlafen zum letzten Mal im Schlafsack, aber die Sonne weckt uns nicht mehr. Wir kaufen ein letztes Mal getrocknete Datteln und Feigen. Dann fliegen wir nach Hause.

Silvester verbringen wir außerhalb der Stadt. Ein Neujahrsfeuer, auf einer windigen Hügelkuppe. In den Tälern rund um uns hängen Rauchschwaden vom Silvesterknall- und Feuerwerk. Gegen Mitternacht beginnt es zu schneien. Gerade so viel, dass die Äcker ringsum angezuckert aussehen. Bei uns am Feuer materialisieren sich die Flocken nicht. Wir haben Saft und Glühwein und Sekt, wir haben Würstchen, Kartoffeln und Chips, alles in allem ist es fast ein Gastmahl. Als die Feuergemeinschaft immer größer wird, beschließen wir, keine Trips zu schmeißen. Verena ruft stattdessen ihre Ahnengeister an. Ein Uhu antwortet ihr. Über uns steht der Orion. Und ein kleines, silbriges Glitzern, wo Sirius in allen Farben blinken sollte. Immerhin sind es dieselben Sterne, die wir auch am Strand über uns hatten.

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