Montag, 8. März 2010

Realität

Der Wind spiel Harfe im Geäst meiner Terasse und ich denke nach.
Schönwettergedanken? Keine Schönwettergedanken. Bei Schlechtwetterakustik. Die Sonne versucht halbherzig, über die Melancholie des Tages hinwegzutäuschen. Und derweil frage ich mich, ob wir uns bald ins Internet hochladen werden. Nein, sage ich mir, obwohl auch ich die stetige Tendenz zur Transzendenz verspüre, die zunehmende Vergeistigung einer Gesellschaft, die beschlossen hat, der Natur den Rücken zu kehren. Moralisch betrachtet. Wobei man sich die älteste Frage der Menschheit schon wieder stellt: War das der Plan? Oder besser: Gibt es einen Plan? Rückblickend betrachtet wirkt alles sehr geplant. Vorausblickend wäre auch die vollständige Vergeistigung eine logische Fortführung. Aber wie logisch ist die Welt? Und wäre Logik der Beweis für die Existenz eines Plans? Oder doch eher dessen Widerlegung? Das tut eigentlich nicht viel zur Sache. Oder besser: Alles.
Aber in diesem Fall sage ich einfach: Nein. Die anderen Fragen außen vor lassend, so gut es geht. Vielleicht aus Angst. Jedenfalls aus Widerwillen. Zusehr fühle ich mich der fleischlichen, stink-duftenden, geschmacklichen, heimlich-anschmiegsamen Welt hier draußen verbunden.
"Aber es wäre wie im Traum" sagst du, mir gegenübersitzend und nicht mehr um mich zu überzeugen als dich selbst, vermute ich.
Ja, im Traum. Gute Träume weiß ich sehr zu schätzen. Auch vor guten Alpträumen habe ich zumindest Ehrfurcht.
"In guten Träumen scherst du dich wenig um diese Realität. Du bist ja in einer anderen, mit ebenso legitimen Gefühlen, Erlebnissen, Bedürfnissen. In einer besseren Realität sogar, einer, mit viel unbegrenzteren Möglichkeiten."
Ja, schon. Aber sind es nicht gerade die Grenzen des Möglichen, die die Wirklichkeit wirklich machen. Ist nicht gerade das an der Stofflichkeit das Schöne, dass Sie uns in dieses Korsett aus Können und Nichtkönnen einschnürt? Ihre schönen, klaren Linien, die sich für uns niemals ändern.
Der bittersüße Nachgeschmack, den nicht erfüllbare Wünsche hinterlassen ist es erst, der die Realität lebenswert macht. Wo wäre noch ein Reiz zu existieren, wenn diese Existenz unbegrenzt und allmächtig ist? Haben wir nicht deshalb den Weg der Stofflichkeit gewählt - um zu erleben? Wenn alles immer jederzeit und überall möglich ist - dann sind wir zurück im Universum. In der Welt der Quanten und der Unendlichkeit des Raumes - in der Größenmaßstäbe, Wahrscheinlichkeiten und Zustände austauschbar und nichtig sind. "Wir würden den schmalen Grad der Erlebbarkeit verlassen, mit ihren 'Naturgesetzen' und 'Gegebenheiten' - dieses eine konkrete mathematische Beispiel, dass wir uns mit dem Beginn unserer Existenz - mit dem Beginn der Selbstwahrnehmung eines 'Bausteins' als Einheit - als selbst - stellten, gelöst haben. Wir könnten es hinter uns lassen. Und war das nicht das Ziel?"
Mag sein. Aber nur, wenn das Ziel eines Spiels dessen Ausgang ist. Mag auch sein, dass schon bald jede nur erdenkliche Emotion, Einbildung und Phantasie künstlich erzeugt werden kann, so dass man nichts Echtes mehr zu vermissen braucht. Aber, wage ich zu behaupten, nur im ersten Moment. Denn selbst wenn jede Information, die das Hirn sich wünscht, ihm zugespeist werden kann, sind wir mehr als unsere grauen Zellen. Wir sind unsere Stammzellen, wir sind unser Immunsystem, wir sind unsere Blutkörperchen: Wir sind vor allem unsere roten Zellen. "Das Herz hat ein eigenes Nervensystem", nickst du - und wir brauchen kaum noch mehr zu sagen.

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